ITT Lidecia - Reise zu den Venarii

Aus Athyria Wiki
Spielwelt(en):Athyria
Urheber:innen:Olav Möhring
Mitwirkende:
Jahr:2021

Schon seit frühester Kindheit träumte ich davon, die Städte der Vinarii zu besuchen, seit jenem Tage, an dem ich zum ersten Male die Geschichte von Mattio und Aroro hörte. Ich erinnere mich an ein großes Fest zu Ehren der Hochzeit des Höchsten Rates. Ich kann nicht älter gewesen sein als 5 ganze Wechsel aller Jahreszeiten, und ein Lehrling des Geschichtenerzählers, des berühmten Nyali war in unsere Siedlung gekommen, um der Festlichkeit ein wenig unterhalterischen Glanz zu verleihen.

Mattio und Aroro! Mittlerweile habe ich sechs aufgeschriebene Versionen dieses Stoffes, eine davon sogar die Mitschrift einer Darbietung des großen Erzählers selbst. Welche Kraft liegt in diesem Epos, wie viel Tragik in dem Tod zweier Liebenden, die jeder Gefahr trotzen, nur um am Ende mit ihrer Liebe an der Angst zu scheitern, nur der Zweitbeste in einem Wettstreit zu sein, den niemand von ihnen ausgerufen hatte.

Damals war ich natürlich noch nicht in der Lage, die moralische und emotionale Tragweite dieser Geschichte zu verstehen. Damals war es eine Abenteuergeschichte zweier Freunde für mich, deren Schauplatz - eine Stadt namens Lidecia, die es meines Wissens nie gegeben hat - ein wundervoller, besonderer, gefährlicher aber unendlich verlockender Ort war.

Ich verschlang fortan Geschichten über die Vinarii und ihre Städte, saß gefesselt im Publikum der Geschichtenerzähler und las später jede Beschreibung und jede Passage. Meine eigene Welt, flammengeküsst, schattenverwöhnt, tönend im Klang der Hämmer und Picken erschien mir zu klein, zu wenig lichtgekrönt im Vergleich zu den Städten der Vinarii, und ich ertappte mich dabei, wie ich mir wünschte, als eine der ihren geboren worden zu sein.

Meinen vorgezeichneten Weg zu verlassen, war unmöglich, und doch wollte es das Schicksal, dass mein Talent zu handeln mich dennoch in eine der Städte der Vinarii führte, noch bevor ich dreißig ganze Wechsel vollendet hatte.

Ich hatte alles über die Häuser mit ihren hohen Fronten und schlanken Türmen gelesen, über die Plätze mit den prächtigen Springbrunnen und über die Üppigkeit der Paläste. Ich kannte jede Erzählung über die hochgewachsenen Vinarii, über ihre Art sich zu kleiden, sich zu geben, sogar über Redewendungen, die man nur bei ihnen verwendete. Ich hielt mich für eine Expertin und so etwas wie eine Seelenverwandte, eine Händlerin vom gleichen Schlage wie sie, nur eben aus einer fremden Companie, wie sie ihre Handelshäuser nennen.

Es war am 18. Tag unserer Reise, als wir die Stadt erreichten, die nicht Lidecia war und nie so geheißen hatte, und die dennoch durch mich gemessen wurde an dem Bild von Lidecia, das ich seit frühester Jugend in meinem Herzen trug.

Und ich wurde nicht enttäuscht! Diese Stadt war hell und sauber, strebte dem Himmel entgegen, ohne den Blick auf den Himmel zu verwehren, war dem Meer zugewandt, ohne sich feucht und klamm anzufühlen, war prachtvoll und verspielt in jedem Detail und doch wieder voller Einfachheit, war wie aus einer der Geschichten, war genau so, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Und war doch ganz anders.

Es war nicht die Architektur, auf die ich nicht vorbereitet war. Ich hatte Kanäle erwartet, Anlegeplätze, Brunnen und Wasserspiele. Ich hatte hohe Gebäude erwartet, die Fassaden voller hoher Fenster, um Licht einzulassen und den großen Palästen das Abweisende zu nehmen, helle Farben, Balkone und Fähnchen überall, und genau so war es.

Ich hatte mir Bewohner vorgestellt in Kleidung, die nicht darauf ausgelegt war, praktisch zu sein, sondern schön, die sich kleideten und gaben, als wäre eine Trennung in zwei Geschlechter etwas, das anderen Völkern, aber nicht ihnen anhaftete. Ich hatte prachtvolle Gewebe erwartet, glänzende Verzierungen, durchbrochene Stoffe. Und so war es auch.

Es war nichts, was man mit dem Auge sehen, mit den Ohren hören oder auf der Haut fühlen konnte, aber nach einer Weile war es ein Gefühl, das ich im Herzen fühlte: Dass sie ganz anders waren, als ich sie mir vorgestellt hatte.

Sie sind schön, haben Schönheit kultiviert. Und mir schien es nach einer Weile, als wisse jedes von ihnen genau, wo seine schönen, besonderen, interessanten Facetten liegen und wo nicht. Und sie sind Meister darin, die guten Seiten zu zeigen und die hässlicheren zu verbergen.

Denn all diese Schönheit ist für sie nicht ein Geschenk, nicht etwas, das sie demütig macht. Es ist etwas, das ihnen gegeben wurde, um es zu nutzen. Es ist ein Wettstreit, alles ist ihnen ein Wettstreit, wenn auch nicht offensichtlich, so denn doch unter der Oberfläche.

Ich dachte, ich würde ihnen ähnlich sein, doch nachdem ich die ersten Geschäfte mit ihnen erlegt hatte, Verträge über die Lieferung von Erz und Edelmetall abgeschlossen hatte, hatte ich gelernt, dass sie Meister eines Spiels sind, dessen Regeln ich kaum kannte. In den ersten Wochen war ich beständig der Ansicht, mit den höflichsten, schönsten und kultiviertesten aller Handelsleute für mich sehr vorteilhafte Verträge zu schließen, von ihnen geradezu hofiert zu werden. Doch dann musste ich einsehen, dass die Verträge ihnen mehr Vorteile boten als mir und sie jedes dieser angenehmen Mittel verwendet hatten, um mich gewogen zu machen, meine Vorsicht schwinden zu lassen, mich zu einer leichteren Beute zu machen.

Es gibt ein Sprichwort, nach dem jemand, der der Ansicht ist, eine der Companien der Venarii über den Tisch gezogen zu haben, seine Zähne, Arme und Beine zählen sollte, und ich weiß nun, was damit gemeint ist.

Man kann Vieles lernen, wenn man sich anschaut, wie sich jemand wappnet.

Sie tragen keine Rüstungen in der Stadt, und wuchtige Waffen oder solche, die man in der Hand hält, habe ich kaum gesehen, bei Wächtern vielleicht. Sie tragen schlanke Schwerter oder lange Dolche an ihren Gürteln, prachtvoll verziert ein jeder Griff und Korb. Es ist leicht, sie für weiteren Tand zu halten, für Schmuck, für Beiwerk.

An einem Tage war ich auf einem belebten Platze. Jeder ihres Volkes bedeckt den Hals, viele das Gesicht oder Teile davon in der Öffentlichkeit, und so wunderte ich mich nicht, als sechs oder sieben von ihnen, die Gesichter verborgen, zügig durch die Menge schritten.

Die Menge aber bemerkte es, und mit einem Male rückte ein jeder ab von einem, den ich für einen jungen Mann hielt und seiner Begleitung. Wie der Wind umstellten die Vermummten sie. Ich sah Waffen blitzen, nicht länger als einen Herzschlag lang. Ein Schrei erklang, dann drehten die Bemäntelten sich weg und eilten in verschiedene Richtungen davon, nicht rennend, doch mit schnellem Schritt.

Die Wache des Jünglings saß am Boden, die Hände auf einen größer werdenden roten Fleck an der Hüfte gepresst. Ich hatte halb erwartet, den Jüngling tot zu sehen, doch stand er aufrecht, einen schmalen langen Dolch in der einen und einen kürzeren Parierdolch in der anderen Hand. Aus zwei Schnitten, einem über jede Wange, tropfte Blut auf sein Gewand, und er atmete schwer.

Die Wunden waren nicht tief. Mit einem guten Heiler würde kaum eine Narbe zurückbleiben. Jünglinge bei mir zu Hause bringen sich schlimmere Verletzungen bei trunkenem Gebalge bei.

Und doch war dies hier ungleich schrecklicher. Denn jemand hatte dem Jüngling eine Lektion erteilt und ihm etwas genommen, das ihnen allen wichtig ist: die Makellosigkeit. Und der Companie des Jünglings hatte man gezeigt, dass sie ihn nicht beschützen konnte. Ich war Zeuge einer Machtdemonstation gewesen, überaus kalt und überaus effektiv vorgetragen, und ohne dass es ernsthafte Verletzungen gab, die einen Richter auf den Plan rufen würden.

Und rannten Dutzende von Wachleuten aufgeregt den Angreifern hinterher? Nicht ein einziger war zu sehen.

Heute habe ich Reisen in verschiedene Städte hinter mir und bin mir sicher: Die Companien liegen im beständigen Wettstreit um Reichtum, Macht und Ansehen miteinander. Sie haben alle ihre Waffen perfektioniert, seien es Kultiviertheit, Höflichkeit, Schönheit oder Einschüchterung, vielleicht sogar Mord. Sie führen diesen Wettbewerb in ihren Palästen und auf ihren Plätzen, und die schöne Fassade ist nicht etwa Blendwerk, sondern Teil des Wettstreits. Pracht spricht für Macht. Macht spricht für Erfolg. Und Erfolg ist gut. Aber das gilt bei uns ja ebenso.

Mittlerweile gelte ich meinen Leuten als Expertin, was die Vinarii angeht. Ich bilde sogar Lehrlinge aus. Eine der wichtigsten Botschaften, die ich ihnen mitgebe, ist diese: Sei nicht zu gierig. Sei aber auch kein Opfer. Biete ihnen ein Geschäft. Denn wenn du ihnen kein Geschäft bietest, werden sie andere Wege suchen, um zu bekommen, was sie wollen.